Umgang mit stotternden Menschen
Das Schlimmste am Stottern ist die Angst davor und die Angst vor der Reaktion der Mitmenschen.
Viele stotternde Menschen können in einer angstfreien Umgebung völlig flüssig sprechen, zum Beispiel wenn sie sich allein in einem Raum aufhalten. Du kannst stotternden Menschen helfen, diese Angst abzubauen, indem du Folgendes beachten:
- Versuche dich in die Situation eines stotternden Menschen hineinzudenken. Verständnis ist eine Voraussetzung, stotternde Menschen zu verstehen.
- Stotternde Menschen sind keine Witzfiguren. Lache nicht über sie, sondern nur mit ihnen.
- Nehme stotternde Menschen als Gesprächspartner ernst und höre ruhig zu.
- Halte Blickkontakt. Es ist ein Zeichen deiner Aufmerksamkeit.
- Unterbreche den stotternden Menschen nicht, spreche nicht für ihn weiter. Es ist eine Missachtung und Entmündigung des stotternden Menschen.
- Stottern ist nichts Peinliches, sondern nur eine andere Art des Sprechens.
Weitere Informationen siehe neues Faltblatt der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V.
‚Hinweise für das Gespräch mit Stotternden‘
Was sich Stotternde von ihren Gesprächspartnern wünschen:
Stottern als Behinderung
In etwas abgewandelter Form wird unser Wahlspruch, den stotternde Menschen sich seit Jahren als Button an die Brust heften, ins Gegenteil verkehrt. Ein gut gemeinter Spruch, der uns stotternden Menschen Mut machen soll. Aber die Realität sieht leider häufig anders aus.
Seit Gründung der Selbsthilfebewegung wird leidenschaftlich und teilweise auch dogmatisch über die Frage diskutiert, ob stotternde Menschen ihr Stottern als Behinderung anerkennen lassen sollen oder nicht. Die Gegner führen bspw. an, dass man sich als anerkannter Behinderter „gehen lassen“- und aufhören könnte, an seinem Sprechen zu arbeiten. Die Befürworter weisen hingegen darauf hin, dass der Gesetzgeber nun einmal für behinderte Menschen spezielle Instrumente zur Unterstützung und zum Schutz bereit stellt, die zu nutzen nur recht und billig ist.
Unabhängig von der zuvor dargestellten Diskussion soll dieser Beitrag in lockerer Folge klären, ob und inwieweit Stottern eine gesetzlich anerkannte Behinderung darstellt, welche Ansprüche die Betroffenen daraus herleiten können und welche konkreten Schritte Betroffene unternehmen müssen, um Stottern als Behinderung anerkannt zu bekommen (Antrag, Widerspruch, Klage, Gutachten etc.).
1.) Was ist eine Behinderung?
Ob ein bestimmter Zustand unseres Körpers eine Behinderung darstellt, richtet sich nach § 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX):
„Menschen sind behindert, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“.
Ein physischer oder psychischer Zustand ist also dann eine Behinderung, wenn
er mindestens sechs Monate andauert,
vom Regelzustand abweicht und
mit sozialen Beeinträchtigungen verbunden ist.
Die Auswirkung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX). Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar die jeweiligen Einzel-GdB-Grade anzugeben, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB-Grades durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Hierbei ist vielmehr von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten GdB-Grad bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen im Zuge einer ärztlichen Gesamtschau zu prüfen, ob und in wie weit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Beeinträchtigung insgesamt gerecht zu werden.
Auf den ersten Blick sollte sich das Stottern leicht unter diese Voraussetzung subsumieren lassen: Stottern ist regelmäßig von Dauer, wenn auch in der Intensität schwankend. Andernfalls müssten wir uns über das Thema keine Gedanken machen. Dass Stottern vom Regelzustand des flüssigen Sprechens abweicht, ist auch klar. Und die sozialen Beeinträchtigungen kann jeder nachempfinden, der sich mit Herzklopfen an die Käsetheke stellt, die Kunden vor sich zählt, immer wieder die gewünschte Käsesorte (Aaappenzeller) durch die Gehirnwindungen jagt und sich dann in letzter Sekunde doch den abgepackten Plastikgouda aus der SB-Theke greift. Und dann erst bei der Partnersuche und Berufswahl … Also 100 % gefühlte Behinderung, aber was sagt das Gesetz dazu?
Wann ist eine Behinderung rechtlich überhaupt relevant?
Ab einem GdB von mind. 50 % gilt ein Betroffener gem. § 2 Abs. 2 SGB IX als schwerbehindert. Damit kommt der Betroffene beispielsweise in den Genuss des besonderen Kündigungsschutzes gem. §§ 85 ff SGB IX bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis erst nach zuvor erteilter Zustimmung des Integrationsamtes kündigen darf. Hierbei wägt das Integrationsamt die Interessen des Arbeitgebers gegen die Interessen des schwerbehinderten Arbeitnehmers ab. Hierbei sind insbesondere die Chancen des Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen.
Der Schwerbehinderte hat außerdem Anspruch auf zusätzlichen bezahlten Erholungsurlaub von fünf Arbeitstagen im Jahr (§ 125 SGB IX).
Die Altersrente wird einem Schwerbehinderten bereits ab dem 63. Lebensjahr gewährt – und vorgezogen mit Abschlägen schon ab dem 60. Lebensjahr (§§ 37, 236a SGB VI).
Ab einem GdB von mind. 30 % und weniger als 50 % kann ein behinderter Mensch beispielsweise gem. § 2 Abs. 3 SGB IX die Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten (mind. 50 % GdB) beantragen, damit er in den Genuss des bereits oben dargestellten besonderen Kündigungsschutzes kommt.
Bei einem GdB von weniger als 30 % spielt eine Behinderung rechtlich praktisch keine Rolle. Hier kommen allenfalls steuerliche Vergünstigungen beim Erwerb spezifischer Hilfsmittel – bzw. wegen besonderer Belastungen in Betracht.
Wie bemisst sich der Grad der Behinderung?
Art und Umfang einer Behinderung wird im Rahmen einer versorgungsärztlichen Untersuchung und Begutachtung geklärt. Damit nicht die subjektive und willkürliche Einschätzung eines Gutachters über das Ergebnis seiner Untersuchung entscheidet („Reiß Dich mal zusammen, stottern ist gar nicht so schlimm!“), hat sich die Untersuchung grundsätzlich nach den Bewertungen der
„Anhaltspunkte für ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“
zu beurteilen. Diese Anhaltspunkte werden von Zeit zu Zeit durch das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) überarbeitet und neu herausgegeben. In ihnen finden die „begutachtungsrelevanten Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim BMGS“ sowie die aktuellen Gesetze Eingang. Die derzeitigen Anhaltspunkte sind auf dem Stand vom 01.05.2005.
Stottern wird in den Anhaltspunkten unter Ziffer 26.7 in drei Kategorien eingeteilt:
• leicht
0 % GdB
• mittelgradig,
auf bestimmte Situationen begrenzt
10 % GdB
• mittelgradig,
nicht situationsabhängig
20 % GdB
• schwere, auffällige Mitbewegungen
30 % – 40 % GdB
• schwere, auffällige Mitbewegungen,
mit unverständlicher Sprache
50 % GdB
Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen. Die üblichen seelischen Begleiterscheinungen sind in den o. g. Werten jedoch bereits enthalten.
Unabhängig von der Frage, ob und inwieweit es überhaupt möglich ist, das individuelle Stottern zielsicher in einer der drei Kategorien und Unterkategorien einzuordnen, ist festzuhalten, dass eine rechtlich relevante Form der Behinderung (ab 30 % GdB) erst ab einer schweren Symptomatik mit auffälligen Mitbewegungen gegeben sein soll. Erst wenn der Stotterer quasi verstummt, weil seine Sprache unverständlich ist, soll seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben um die Hälfte gemindert sein (50 % GdB). Ein Vergleich mit anderen Stimm- und Sprechbehinderungen unter Ziffer 26.7 zeigt, dass diese Einstufungen im Sinne der Anhaltspunkte konsequent sind:
Funktionale und organische Stimmstörungen (z. B. Stimmbandlähmung)
• mit guter Stimme
0 % – 10 % GdB
• mit dauernder Heiserheit
20 % – 30 % GdB
• nur Flüsterstimme
40 % GdB
• mit völliger Stimmlosigkeit
50 % GdB
Artikulationsstörungen durch Lähmungen oder Veränderungen in der Mundhöhle
• mit gut verständlicher Sprache
10 % GdB
• mit schwer verständlicher Sprache
20 % – 30 % GdB
• mit unverständlicher Sprache
50 % GdB
Beurteilung des Stotterns in der gerichtlichen Praxis nach SGB IX
Nach den mir vorliegenden Gerichtsurteilen ist es in der Praxis recht schwierig, auf Stottern einen GdB von 50 % anerkannt zu bekommen. In einem Urteil stellte bspw. das Sozialgericht Münster zwar fest, dass dem Gericht eine Kommunikation mit dem Kläger aufgrund seines äußerst starken Stotterns praktisch nicht möglich war. Das Gericht hatte den Eindruck, dass die Kommunikationsfähigkeit des Klägers allenfalls noch schriftlich möglich sei. In diesem Fall stellte das Gericht für das Stottern jedoch lediglich einen Einzel-GdB von 40 % fest. Dass dem Kläger im Ergebnis dann doch ein Gesamt-GdB von 50 % anerkannt wurde, lag daran, dass er zusätzlich unter leichten neurotischen Störungen mit vegetativen Begleiterscheinungen litt. Bei diesen Begleiterscheinungen handelte es sich um Schwitzanfälle, insbesondere beim Zusammentreffen mit anderen Personen und in geschlossenen Räumen. Hierfür erkannte das Gericht einen Einzel-GdB von 20 % an. Das Verfahren dauerte von der Antragstellung beim Integrationsamt bis hin zum Gerichtsurteil etwa zwei Jahre. Es wurden insgesamt drei Sachverständigengutachten eingeholt.
Standpunkt der Stotterer-Selbsthilfe zur Darstellung des Stotterns
Die Stotterer-Selbsthilfe ist seit Jahren intensiv darum bemüht, die Definition des Stotterns in den Anhaltspunkten sachgerecht zu überarbeiten. Hier besteht reger Kontakt mit den Fachbeamten des BMGS und den Mitgliedern des ärzlichen Sachverständigenbeirates. Unterstützt wird die Stotterer-Selbsthilfe hierbei durch anerkannte Fachmediziner.
Franz-Josef Eilting in Schilling, Kommentar zum Sozialrecht auf CD-Rom:
Die Einteilung und Begründung der Behinderungsgrade sind aus folgenden Gründen fachlich und sachlich falsch:
a) Die in der Kategorie „mittelgradig“ vorgenommene Unterscheidung in „auf bestimmte Situationen begrenzt“ und „nicht situationsabhängig“ ist irreführend. Stottern unterliegt typischerweise einer gewissen Variabilität und tritt stets situationsabhängig auf. Dies gilt für leichtes wie auch für schweres Stottern.
b) Die Zuordnung von „auffälligen Mitbewegungen“ zu der Kategorie „schwer“ ist nicht korrekt. Auffällige Mitbewegungen können auch bei leichteren Stottersymptomen auftreten und stigmatisierend sein.
c) Der Terminus „unverständliche Sprache“ bei der Kategorie „schwer“ ist missverständlich. Beim Stottern handelt es sich nicht um eine Artikulationsstörung, bei der das Sprechen durchgängig unverständlich wird. Es kann allerdings in bestimmten Situationen so ausgeprägt auftreten, dass das Sprechen dann unverständlich und die Kommunikation sehr erschwert bzw. unmöglich wird.
Außerdem ist hinsichtlich der zusätzlich zu berücksichtigenden „außergewöhnlichen psychoreaktiven Störungen“ zu beachten, dass seelische Begleiterscheinungen nicht ursächlich für das Stottern, sondern Folge des Stotterns sind und bei allen Schweregraden des Stotterns unterschiedlich stark auftreten können.
Entscheidend für den Grad der Behinderung ist die Stärke des Stotterns bzw. der Grad der Beeinträchtigung des sprachlichen Ausdrucks in kommunikativ zu bewältigenden sozial bedeutsamen Situationen – insbesondere im Berufsleben, bei Telefongesprächen, bei gesellschaftlich wichtigen Anlässen – sowie die Beeinflussung der Lebensqualität durch das Stottern und seine Folgeprobleme.